Die Unmöglichkeit
des Sich-selbst
Es ist wahrscheinlich allgemein unmöglich, sich selbst etwas anzutun. Ob es um
eine Sache geht oder eine Person, das spielt keine Rolle. Dies ist von zwei
Gesichtspunkten aus zu betrachten, und zwar vom räumlichen und
zeitlichen.
Das räumliche Sich-selbst
Ein
Pfeil hat einen Ausgangspunkt und einen Endpunkt. Nun denke man sich einen
Pfeil, der auf sich selbst gerichtet ist. Mir ist ein solches Denken nicht
möglich. Sicher kann man Tricks anwenden, Illusionen denken, Irrwege finden,
bei denen dies möglich ist. Es ist auch nicht möglich, sich selbst aus dem
Wasser zu heben. Ein Auge kann sich nicht selbst sehen, sondern nur das Bild im
Spiegel. Wer sich zum erstenmal auf einer Filmaufnahme sieht, merkt spätestens
dann, wie einseitig doch ein Spiegelbild ist, und daß er sich jetzt erst
richtig sieht, wie er geht, wie er gestikuliert usw. Es bleibt immer ein Teil,
das nicht gesehen wird. Sogar die Natur mußte sich etwas einfallen lassen,
damit die Stelle, an der der Sehnerv im Auge eintritt, das Sehen nicht stört.
Denn das Bild fällt auch auf diese Stelle. Analog dazu bleibt immer ein Teil,
das nicht gedacht werden kann, nämlich die Ursprungsstelle des Denkens, wenn es
so etwas überhaupt gibt, was ja völlig ungewiß ist, und was nicht einmal
Gehirnspezialisten annehmen.
Das zeitliche Sich-selbst
Wenn
für Heraklit derselbe Fluß eine Minute später ein anderer war, wie könnte man
selbst der gleiche sein? Sich gleichzeitig, unmittelbar vor sich haben? Dazu
müßte man außerhalb der Zeit sein. Wenn man sich etwas antut, so kann man nur
demjenigen etwas antun, der man in einer kurzen Zeit später ist. Sich selbst
etwas antun, das könnte man nur, wenn die Zeit stehen bleiben würde. Allerdings
kann dann auch niemand einem anderem etwas antun, sondern nur demjenigen, der
später ist. Das ändert aber nichts an der Sache selbst, und dieser Fall soll
hier nicht bedacht werden.
Es
gibt noch andere Gesichtspunkte des Sich-selbst. Aber es geht immer um
denselben Brei. Gibt es ein mathematisches Sich-selbst, ein mechanisches, ein
energetisches? Ein spezielles Perpetuum mobile, das als Maschine eine
unendliche Quelle von Energie sein sollte, schwebt so vielen vor. Es schöpft
aus sich selbst, so wie ein Gott es tut, und wie derjenige, der sich einen
freien Willen zuschreibt. So wie aus dem Nichts die Unendlichkeit entstehen
soll, so soll aus dem Unendlichen das Nichts entstehen können. Man denke an
eine Zahl, die sich selbst zerstört. Kaum gibt es eine Eins, und schon kann man
schreiben: 1-1=0. Hat die Eins sich nun selbst zerstört?
Weitere Probleme in diesem
Zusammenhang
Ein
materielles Objekt kann nicht gleichzeitig außerhalb gewisser Grenzen sein, und
innerhalb dieser Grenzen. So kann ein Subjekt nur bei sich sein, oder außerhalb
von sich, aber nicht gleichzeitig innerhalb. Es sei denn es ist hat zwei Teile.
Auch in der Mathematik wird gesagt, daß es dasselbe nie geben kann, sondern nur
ein gleich großes z.B., daß es also eine Gleichheit nur bezüglich einer theoretischen
Größe geben kann.
Die Fiktion des Sich-selbst
Diese
Fiktion hat sich wie viele andere bewährt. Sie läßt sich von vielen zur
Wahrheit erheben. So höre ich Einwände aus dem Hintergrund: Wenn es das
Sich-selbst nicht geben würde, dann wäre der Suizid unmöglich, dann könnte man
sich selbst nicht im Spiegel sehen, dann könnte man sich selbst auch nicht
denken, also gar kein Bewußtsein haben! Dann wäre jede Selbstorganisation eine
Selbsttäuschung, und jeder würde in den Tag hineinleben, auch wenn er das nicht
wollte. Dann könnte man sich auch nicht selbst pflegen, und nicht an sich
arbeiten. - Alle diese Umstände zeigen, wie wichtig diese Fiktion ist. Wer von
sich aussagt, er könne denken, kann schwer ohne diese Fiktion leben.
Ein
bekannter Witz mag die Sache aufheitern: Ein Verrückter sagt, er habe sich
gerade einen Brief geschrieben und abgeschickt. Nun fragt sein Gefährte, was
denn darin stünde. Die Antwort lautet: "Wie könnte ich dies wissen, da ich
den Brief ja noch nicht erhalten habe!"
Das
Überweisen von Geld ist ebenso üblich wie das Verschicken von Briefen. Kann
eine Bank sich selbst Geld schicken? Sicher, eine Bank ist groß, und sie kann
Geld von einem Konto auf ein anderes innerhalb ihrer selbst schicken. Als
Ganzheit gesehen hat sie sich selbst nichts geschickt, ihre Teile haben sich
etwas geschickt. Wenn also eine Sache sich selbst etwas antut, besteht sie
mindestens aus zwei Teilen, oder sie tut demjenigen etwas an, das sie später
ist. So ist ein Suizid immer nur ein Töten dessen, das später ist, oder das
Resultat des internen Kampfes zwischen mindestens zwei Teilen. Das Teil, das
die Oberhand gewinnt, lebt und agiert bis zum Ende, und den Todeswunsch des
betreffenden Willens kann die Person nicht haben. Sonst würde dieser sich
negieren, und die Person würde weiterleben. Der Tod wird aber in Kauf genommen
und vorausgesehen. Auch ein Straftäter nimmt die Möglichkeit in Kauf, daß er
bestraft wird.
Wir
können uns zwar so manche Freude selbst bereiten und immer wieder staunen, wie
gut wir das können. Aber auch hier macht die Natur uns manchmal einen Strich
durch die Rechnung. Dadurch, daß wir wissen, was auf uns zukommt, verlieren wir
die Möglichkeit, es so richtig zu erleben. So z.B. wenn wir uns selbst kitzeln
sollen, um dabei zu lachen. So etwas funktioniert nur dann, wenn ein kleiner
Zeitabstand zwischen Tun und Erleben besteht, eine kleine Ungenauigkeit, ein
Aus-sich-selbst-gehen, eine kleine Ekstase.
Kann ein Subjekt sich selbst im Spiegel sehen? Dem Subjekt ist das Erleben des zeitlichen Unterschiedes zwischen Bild und Selbst nicht möglich. Und räumlich ist das was im Spiegel ist, nur ein Bild. Aber diese letzte Antwort befriedigt nicht. Denn das Bild ist an sich ist nicht viel anders als das Subjekt selbst. Daß es spiegelverkehrt ist, ist beim ersten Erkennen im Spiegel nicht relevant und kann erst viel später in der Seinswerdung des Subjekts erkannt werden. Sieht das Subjekt sich also doch selbst? Wenn ein Subjekt zum erstenmal eine Sache findet, die einer anderen völlig gleich ist, muß es verwirrt sein. Es sieht die Sache, dreht den Kopf leicht, und sieht die Sache wieder. Das ist außergewöhnlich und es verwirrt. Es verwirrt auch Subjekte, die sich selbst nicht im Spiegel erkennen können. Aber warum sollte es für ein Subjekt verwirrend sein, z.B. mehrere Bäume nebeneinander zu sehen, die alle gleich aussehen? Wenn es den einen Baum sieht, vergißt es ihn, sieht dann den anderen, und sieht deswegen keine Gleichheit. Der erste Baum besteht nicht als Nachwirkung im Gedächtnis. So kann der gleiche Baum auch nicht als solcher wiedererkannt werden. Das Erkennen der räumlichen wie zeitlichen Gleichheit fußt also gleichermaßen auf der Möglichkeit, eine Sache von zwei Seiten her zu erleben. Das Subjekt, das sich selbst im Spiegel erkennt, ist eigentlich dreigeteilt, denn es erlebt sich selbst als Vorstellung seiner selbst, sieht sich im Spiegel, erlebt unter anderem die Verwirrung durch gleichzeitiges Vorhandensein beider, und das, was diese Verwirrung erlebt, ist es selbst, also der dritte. So mag die Fiktion des Bewußtseins nichts anderes sein als die Verwirrung über dieses Außergewöhnliche, oder das Überwinden dieser Verwirrung. (Ich werde später zeigen, daß je nach Unterschied zwischen Sehen des Bildes und Erleben seiner selbst aus dem Gedächtnis oder dem direkten Erleben eine andere Art Bewußtsein definiert werden kann.) Es wäre übertrieben, Bewußtsein nur aus der Verwirrung heraus zu erklären. Eine Darstellung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein unter Mißachtung der oben genannten Aporie würde diese jedoch ständig mit sich tragen.
(26.1.2002)
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zum
nächsten Text: Aporie des Wissens und
Aporie der Transzendenz wissen-aporie.htm mit folgender Beschreibung: Über die
Unmöglichkeit, ein transzendentes Wissen anzunehmen, und damit über die
Fragwürdigkeit jeder Erkenntnistheorie
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zur
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Joseph Hipp