Aporie des Wissens und der Transzendenz

 

Aporie des Wissens

 

Statt Wissen hätten hier andere Wörter und deren Zusammenhänge untersucht werden können, etwa Begriff, Denken, Erkenntnis, Information usw., zur Vereinfachung wird jedoch nur das Wort Wissen bedacht. Etwas „von“ einer Sache wissen ist so, als würde etwas von der Sache ausgehen. Etwas „zu“ einer Sache wissen ist so, als würde ich mich der Sache zuwenden, oder ihr etwas hinzufügen, etwa Sätze. Etwas „über“ eine Sache wissen ist so, als würde ich fern von der Sache weilen, fast unbeteiligt „über“ der Sache. So oder anders könnten die Wörter, die eine Verbindung zum Objekt des Wissens herstellen sollen, erläutert werden. Alle diese Verbindungswörter leiden mitsamt dem Wissen auf unterschiedliche Weise unter derselben Aporie, die hier unten nur umschrieben wird, wobei einerseits Wissen möglich sein soll, ein andermal unmöglich. Oder wo Wissen zwar irgendwie existent ist, dann aber nicht so, wie wir es üblicherweise denken.

 

Sicher kann mit dem Wort Wissen an vieles gedacht werden. Es soll z.B. vorliegen:

-         beim Wiedererkennen eines Bekannten,

-         wenn man etwas mit Wörtern oder mit Sätzen sagen kann,

-         wenn man etwas tut, was man ohne dieses Wissen nicht tun könnte.

 

Um über eine Sache sprechen zu können, muß sie sich schon vorher im Subjekt hervorgetan haben, also bevor sie gewußt ist oder etwas über sie gewußt wird. Erst wenn die Sache schon eine Wirkung im Kopf hat, können Sätze zu ihr und nach ihr entstehen.

 

P soll hier ein bestimmtes Subjekt oder eine Person sein. P ist anfänglich mit der Sache vereint, oder die Sache bringt sich in ihm zur Geltung. P muß anfänglich eine offene Aufmerksamkeit haben, er muß sich gewissermaßen dem Geschehen anpassen. Dann erst bringt die Sache sich mit ihrem Sosein in ihm zur Geltung. P muß die Sache zuerst so annehmen, wie sie ist. Ein Bild der Sache ist gewissermaßen in P eingedrungen, so dachte Demokrit.

 

Alsdann ist es erst möglich, sich gegen die Sache zu wehren oder sie anders anzugehen. Oder es kann eine Distanzierung zur Sache entstehen, dann ein Wissen, von dem P sich wiederum fiktiv distanzieren kann. Dann sind mit P scheinbar drei Instanzen vorhanden. P kann das Wort Wissen eventuell benutzen, und glauben, ein Wissen über die Sache zu haben. P bleibt immer mit der Sache wegen ihrer Wirkung vereint, die Distanz ist immer nur fiktiv, egal ob sie zur Sache oder zum Wissen gedacht wird. Das ist die Aporie, die aufzeigt, daß ein unbeteiligtes Wissen eine Chimäre ist.

 

Weder Erkenntnistheoretiker noch Wissenschaftler können eine Sache sozusagen unbeteiligt, wissenschaftlich untersuchen, ohne daß sie einen Einfluß auf sie hat. Auch nicht, wenn sie die Sache schon kennen, und sich dann mit Experimenten auf den Weg machen, um sie besser zu untersuchen. Und auch nicht, wenn sie sich nachträglich aus ihrer Erinnerung heraus mit ihr beschäftigen.

 

Die Sache oder eher die Wirkung der Sache hat jedenfalls eine Kraft oder Wichtigkeit in den Sinnen oder sonstwo im Kopfe der Subjekte, bevor das Denken dazu überhaupt beginnen kann. Dann gaukeln sie sich vor, etwas über die Sache zu wissen. Aber das Wissen ist nur eine Wirkung der Sache in ihrem Kopf. Die Sache macht sich wichtig bevor sie erkannt wird. Selbstverständlich kommen noch Sachen von anderen Stellen hinzu, aus dem Kopf des Subjekts, und von anderswo her, das ändert an der Aporie aber nichts.  

 

Diese Aporie deckt sich nicht mit der Idee des hermeneutischen Zirkels, auch wenn an diesen hier gedacht werden könnte. Denn die Hermeneuten sind diesbezüglich in derselben mißlichen Lage wie die Wissenschaftler. Sie glauben ja zuerst ein wenig zu verstehen, bevor sie die Sache erneut erleben. Das ist aber entweder nicht glaubhaft, wenn sie sie noch nie erlebt haben, oder sie haben sie schon vorher teilweise erlebt.  

 

Hermeneuten können nicht anders als Wissenschaftler eine neue Sache nur mit ihrer Auffassungsgabe erleben, und wenn sie diese nicht haben, sehen sie die Sache nicht oder bemerken sie nicht. Mit den Wörtern Verstehen oder Wissen bleiben sie in der Aporie gleichermaßen stecken, sie helfen ihnen nicht über sie hinweg. (Sache ist hier wie oben allgemein definiert, ein Gedanke, ein Sachverhalt, ein materielles Objekt, ein Wort.)

 

Die Wissenschaftler wissen, daß sie nicht messen können, ohne die Messung zu beeinflussen. Sie versuchen, diesen Einfluß so gering wie möglich zu halten. Ist hier ein Zusammenhang mit der Aporie des Wissens? Wenn eine Sache einem Subjekt P auffällt, so geht etwas von ihr in das Subjekt hinein. Wenn P eine Sache betrachtet, geht etwas von ihm in die Sache hinein. In dem einen Fall kann P nach dem Eingriff nicht mehr derselbe sein, im anderen kann die Sache nicht mehr dieselbe sein. Der einzige Unterschied ist, daß nur P meint, etwas über die Sache zu wissen, nicht umgekehrt. Könnte die Sache nun auch mit der Vermutung, zu wissen, denken, so wäre auch sie in der Aporie befangen. Die Betrachtung zweier Personen untereinander ebenso wie die Selbstbetrachtung führen aus diesem Rahmen hinaus, weil dabei weitere Probleme hinzu kommen.  

 

Mystiker glauben, daß man mit Wissen und Wissenschaft nicht an eine Sache herankommen kann, daß man sie mit ihnen nur zerstören und zerreden kann. Nur wenn ihr Wissen von woanders herkommen würde als von den Sachen selbst, dann stünden sie nicht vor der Aporie des Wissens. Dann wäre es so, als hätten sie das Wissen aus einer Bibliothek oder einer sonstigen Vermittlungsstelle. Die Aporie wäre damit geschickt auf eine andere Instanz verschoben.  

 

Jeder gesagte Satz muß von einer Sache verursacht sein, die sich zuerst zur Geltung gebracht hat, auch negative Sätze, wie der vorhin zitierte von den Mystikern. Wäre jeder ihrer Sätze, da sie ein Wissen tragen wollen, nicht von ihnen selbst auch abgewertet, da sie das ihnen unterliegende mit zerstören und zerreden würden?

 

Aporie der Transzendenz

 

Statt vom Wort Wissen hätte ich vom Wort Transzendenz ausgehen können. P kann sich auf transzendenten Ebenen zu befinden glauben.

 

Es folgen zwei widerstreitenden Satzgruppen:

 

(1) Es ist möglich, in einer denkenden Ebene Sachen zu beschreiben, ohne daß man etwas mit den Sachen der anderen Ebene zu tun hat, und ohne von ihnen beeinflußt zu werden. So gibt es mindestens zwei Ebenen. Die eine Ebene ist die der Beschreibung, die andere die der zu beschreibenden Sache. Die eine Ebene ist so wie der Hochsitz mit dem Überblick, die andere der überblickte Rest der Welt. Auf der einen Ebene sind die Bedeutungen, auf der anderen die Sachen oder Signifikanten.

 

(2) Es ist nicht möglich, über etwas zu denken. Im Denken bringt sich immer nur die vorhandene Situation selbst zur Geltung. Was auf die vorhandene Situation folgt, etwa Sätze, Handlungen usw., daran sind die zur Situation gehörenden Sachen ursächlich beteiligt. Die denkende Person ist immer nur Teil dieser Situation. Eine Illusion ist es, eine unabhängige Ebene von einer anderen aus richtig darstellen zu können. Wenn die Ursache eines Gedachten oder Geschriebenen gesucht wird, so muß immer auch an die Situation gedacht werden, die das Geschriebene hervorbrachte. Und wenn es zwei Ebenen gibt, so wirken zumindest einige Sachen einer Ebene auf die Sachen der anderen.

 

Kritik an (1): Sollte es verschiedene Ebenen geben, die wirklich voneinander unabhängig sein sollten, so könnte real oder per Definition nichts von der einen Ebene in die andere gelangen. Die eine Ebene könnte die andere nicht beeinflussen, und was auf einer Ebene ist, kann in dem Falle nicht von einer anderen Ebene aus bemerkt werden: die eine ist für die andere so wie nicht vorhanden.

 

Weil wir ständig unter der Voraussetzung der Satzgruppe (1) denken, gleichzeitig aber wissen, daß nur Satzgruppe (2) uns richtig beschreiben kann, sind wir vor einer Aporie. Sie könnte Aporie der Überschaubarkeit oder der Transzendenz genannt werden. Auch im Handeln jeder Art gibt es diese Aporie, insbesondere im sogenannten Handeln, bei dem anscheinend Mittel zu einem Zweck benutzt werden. Satzgruppe 1 befürwortet die Transzendenz, Satzgruppe (2) die Immanenz.

 

Wer die Satzgruppe (1) ohne Bedenken annimmt, glaubt an die Möglichkeit, sein Leben zu ordnen. Für ihn ist es leicht, eine Weltanschauung zu haben. Er glaubt, eine Vorstellung von der Welt und eventuell vom Sein zu haben. Er tendiert zur Annahme der Willensfreiheit, und denkt, daß die Kausalität in ihm allerhöchstens in Nebensächlichem wirkt. Er glaubt zu wissen, was Verantwortung, Moral und Ethik bedeuten. Kausalität hört gewissermaßen am Ohr bei ihm auf, innen gibt es sie für ihn nicht. Oder er stellt sich dort Hirnströme vor und läßt die Muster ablaufen, wie sie die Gehirnspezialisten aufzuzeichnen vermögen. Jedenfalls denkt er, daß sein Ich die Information interpretiert, und damit tut was er will.

 

Wer sich der Satzgruppe (2) sicher ist, weiß immer, daß er nur Teil eines nicht einmal Ganzen ist, und daß vieles auf ihn wirkt. Er weiß auch nichts mit den Wörtern Welt oder Sein anzufangen. Wenn ihm etwas Eigenständiges zugesagt werden könnte, so ist dieses nur eine Sache der Definition. Er kann nichts mit Wörtern wie Verantwortung und Moral anfangen, und fällt trotzdem deswegen noch lange nicht ins Beliebige oder gar in die Kriminalität.

 

Die Satzgruppe (2) können eine Hilflosigkeit zu bedenken geben, oder gar von einer Desorganisation befolgt werden. Und das genauso beim Intellektuellen, der sich nicht organisieren kann, beim Kapitalisten, der sein Geld nicht verwalten kann und beim Triebmenschen, der seine Taten später bereut, beim Richter, der den Täter nicht verurteilen kann, usw.

 

Transzendenz im praktischen Leben

 

Gibt es einen Ausweg aus diesen Aporien, im praktischen Leben? Nein. Es kann nur Kunstgriffe geben. Sich Ziele vorgeben ist ein Beispiel für einen Kunstgriff hierzu.

 

Es gibt Fälle oder Situationen, bei denen es einer Person nicht möglich ist, ihr Tun und Erleben zu überschauen. Dann hatte sie nicht die Möglichkeiten, die von der Satzgruppe (1) ausgehen, und ist auch nicht von der o.g. Aporie betroffen. Einige Beispiele hierzu:

 

Wer ständig von Schmerzen geplagt wird, sich mit seiner Krankheit beschäftigen muß, wer von seinen Obsessionen verfolgt wird, hat zumindest dann keine Zeit für den unbefangenen Überblick, und wird dann immanent leben.

 

Wer an bestimmten Orten so etwas wie eine fest definierte Rolle spielt, etwa als Arbeiter, Sklave oder Theaterspieler, für den wird es leicht, die vorliegenden Regeln zu befolgen. Es ist offensichtlich, warum die eine freie Seite dann nicht zur Wirkung kommt und die Aporie sich nicht zeigen kann. Die höhere Ebene ist hier irgendwie fest oder vorgegeben und kann von der betreffenden Person nicht angetastet werden.

 

Für denjenigen, der auf der Fahrt zu einer bestimmten Person ist, ist es sehr leicht, nicht vom Wege abzukommen. Auch hier ist die Fahrt vorgegeben, auch wenn die Person sich selbst darauf fixiert hat. Es bestehen, sobald die Person auf dem Wege ist, keine Alternativen. 

 

Wenn ein Musiker die Aufführung eines Musikstücks übt, so hält er sich an die betreffende Partitur. Hier wird er sich gewollt oder ungewollt an diese Vorgabe halten. Die höhere Ebene ist sozusagen auf dem Papier, dem Plan.

 

Ein Computerspiel kann ständig nur das vorgeben, worauf reagiert werden muß. Eine Person kann sich daran wie besessen halten. Auch andere Spiele wirken in dem Sinne.

 

Wenn mit der Annahme verschiedener Ebenen weitergedacht wird, kann die Frage entstehen, ob es möglich ist, daß eine Ebene eine andere nur in einer Richtung beeinflussen kann. Dieser Sachverhalt ist als Steuerung bekannt. Anderenfalls spricht man bekanntlich von Regelung. Bei der Steuerung wird nicht Rücksicht genommen auf die Wirkungen, bei der Regelung werden die Änderungen berücksichtigt, d.h. sie beeinflussen den Regelkreis. Somit kann einmal die „höhere“ Ebene das Geschehen bestimmen, ein andermal die niedere.

 

Steuerung:

Die strikte Einhaltung von Regeln hat etwas Künstliches an sich. Wenn ein Musiker nur die Vorgaben der Notenschrift starr befolgt, so resultiert daraus ein unnatürlich-maschineller Vortrag. Ebenso ist es beim Tanz. Die Eleganz fehlt.

 

Ein Computerprogramm, das nur das ausführt, was ihm vom Programmierer vorgegeben wurde, ähnelt einem starr organisierten Menschen. In beiden Fällen wird das Tierische oder Menschliche nicht vorhanden gedacht, oder zumindest nur nebensächlich angesehen: Gefühle können zwar bei ihrem Tun mitlaufen, sie können aber nichts mitbestimmen. Und was auch immer geschieht, ein Diktator läßt sich nicht von seinem Tun abbringen. In beiden Fällen ist die Motivation der Tätigkeit außerhalb der Tätigkeit. (Ein bestimmter Autor hat aufgezeigt, daß zielgerichtetes Denken beim Lösen von mathematischen Aufgaben genauso wie computerprogrammiertes Denken abläuft.)

 

Und wenn wir sagen, daß der von oben herab Organisierte sinnvoll handelt, dann haben wir den Sinn einseitig mit definiert, und wir müßten ab dem Zeitpunkt auch so werden wollen.

 

Transzendenz durch Sprache

 

Sprache, Logik, Mathematik sind nur Beispiele, die das Denken einer Transzendenz fördern. Beim völligen Transzendieren können in der Sprache nur Regeln gelten, und es kann nach Satzgruppe 2 kein Bezug mehr zu den angeblich zu beschreibenden Sachen bestehen.

 

Keine Ordnungsmöglichkeit

 

Alle Bedenken gegenüber der Transzendenz treffen auch jede Ordnungsmöglichkeit. Wenn ich materielle Objekte auf verschiedene Ebenen eines Regals ordne, so besteht die Ordnung. Wenn ich dasselbe mit Gedanken mache, so denke ich die Ordnungsmetapher in Gedanken, aber wenn ich die Gedanken als solche untereinander zu vergleichen versuche, sehe ich unter ihnen keinen Unterschied. Insoweit man eine Ordnung hergestellt hat, ist sie auch vorhanden. Ein gutes Beispiel ist hierzu das Periodensystem der chemischen Elemente. Eine Ordnung, bei der eine Sache über einer anderen angeordnet sein soll, ist etwas anderes als eine Ordnung, bei der die Elemente gleich angeordnet sein sollen, wie etwa eine Menge kleiner Magnete, so daß daraus ein großer Magnet entsteht. Diese Unterscheidung muß ständig beachtet werden. Andererseits wird die Metapher des räumlichen Übergeordneten nicht genügen, um daraus die Ebenen des Allgemeineren dem Speziellen gegenüber zu verstehen.

 

(13.6.2002)

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zum nächsten Text: Welt (welt.htm) mit folgender Beschreibung:

 

1. Blick auf die Welt

 

a)      Eine Methode, mit der die zwei Aporien umgangen werden können

b)     Definition Subjekt

 

2. Verzicht auf bestimmte Wörter - Fortsetzung der Methode der Ungenauigkeit

 

3. Welt, Leben, Sein, Natur, Universum, Bewußtsein  - Welt mit Bezug auf sich selbst nicht denkbar

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zur Übersicht: www.weltordnung.de 

© Joseph Hipp