Begegnung
Vorwort
Folgende Wörter
werden hier nicht benutzt: Begriff, Eigenschaft (einer Sache, eines Umstandes
usw.), Erkenntnis, Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Abstraktion, obwohl die
Versuchung groß ist, sie zu benutzen. Die Gefahr, daß sie in Sackgassen führen
wird damit vermieden.
Es bedarf hier
auch keiner Rückführung einer Sache auf eine andere, wie sie mit Sätzen der
Form "A ist B" oder "A ist eigentlich B" versucht wird.
Übrigens hat es
keinen Zweck die zwei folgenden Texte zu lesen, bevor die Verwendung der Wörter
Subjekt und Betrachter angenommen wird (siehe hierzu sachen.htm und
welt.htm). Zuerst geht es hier um die
Frage, wie zwei Sachen sich begegnen, wobei mindestens eine die andere
beeinflußt.
Begegnung oder Vorbeiziehen
Wenn zwei Sachen
sich im Raume nähern, kann es sein, daß sie aneinander vorbeiziehen, und daß
sich in keiner der Sachen etwas ändert. Dann ist es so, als hätte keine der
Sachen die andere bemerkt. Je nach Standpunkt ist eine derartige Näherung ein
Zugang einer Sache A zu einer Sache B, eine Begegnung zweier Sachen usw. Die
unterschiedliche Wortwahl entspricht der Relativität der Bewegung schlechthin.
Ob A sich B nähert oder umgekehrt ist belanglos. Wenn nun bei einer Begegnung
sich etwas an einer der zwei Sachen ändert, so werden die Wortwendungen "A
nimmt B wahr", "A erkennt B" hier nicht benutzt. Auch Wörter wie Interaktion, Kommunikation,
Wechselwirkung würden hier nur stören.
Zuerst soll hier
vorläufig vorausgesetzt werden, daß A weder Gedächtnis noch Bewußtsein hat, und
daß etwaige Änderungen an A reversibel sind.
Die Unbestimmtheit der Begegnung
Wenn zwei Sachen
A und B sich begegnen, und A sich dabei ändert, so kann von vornherein allein
von A ausgehend nicht gesagt werden:
- ob die Sache B
die Sache A geändert hat,
- ob A sich
unabhängig von der Begegnung geändert hat,
- ob etwas von B
Ausgehendes (z.B. Strahlen) A geändert hat.
Die drei
möglichen Orte der Ursache sind also bei B, bei A, oder zwischen A und B. Auch
Mischformen hierzu sind möglich: Wenn B Teilursache der Änderungen war, dann
ist von A aus nicht feststellbar, ob B Teilursache oder einzige Ursache der
Änderung in A war.
Ein einfaches
Anwendungsbeispiel:
A ist ein
Meßinstrument, z.B. ein elektrisches.
B ist die
Stelle, an der gemessen wird.
Dann kann nicht
von vornherein gesagt werden, allein mit Blick auf das Meßinstrument, ob eine
Meßanzeige am Instrument von der Präsenz einer Sache B verursacht wurde, ob die
Ursache zwischen A und B war (Störfaktor), oder ob die Ursache in A selbst war
(Instrumentenfehler) oder ob B nur Teilursache war.
Weil es bei
jeder Begegnung von vornherein unsicher ist, wo der Ort der Ursache bei
etwaigen Änderungen der sich begegnenden Sachen ist, wird die Wendung
"Unbestimmtheit der Begegnung" hier vorgeschlagen. Doch jetzt nun zu
dem Fall, bei dem ein Subjekt sich einer Sache nähert. Es ist auch hier von
vornherein ungewiß, wo sich etwas ändert, am Subjekt, an der Sache oder
zwischen beiden. Der Einfachheit halber gehe ich hier von einem Subjekt aus,
das eine Sache visuell als solche vor sich hat bzw. sich dieser nähert, was
auch immer dieses Sich-Nähern ist. Später können komplexere Zugänge bedacht
werden.
Beispiel: Wenn
ein Subjekt vor einem grünen Baum steht, so ist von vornherein ungewiß, ob
(1) die
Empfindung des Grünen im Subjekt ist oder ob
(2) etwas Grünes
beim Baum ist.
analog:
(1) das Wort
Baum im Subjekt entsteht,
(2) ein
Wortartiges (Idee) am Baum selbst ist (Platonismus).
Allgemein kann
ein Subjekt von vornherein nicht wissen, ob eine bestimmte Farbe, Temperatur
usw. zu einer Sache gehört oder zu seinem eigenen Empfinden.
Wenn jedoch ein
Betrachter das Ganze "Subjekt und Sache" mit den entsprechenden
Überlegungen zu dem Ereignis überblickt, dann zeigt sich ihm, was wo ist. Die
Unbestimmtheit hat sich dann zwar aufgelöst, sie besteht aber immer noch
zwischen dem Betrachter und dem betrachteten Ganzen. In diesem speziellen Fall
ist ungewiß, ob das Geschehen beim Ganzen oder im Betrachter kraft seiner
inneren Möglichkeiten (z.B. Vorstellungen) abläuft.
Die genannte
Unbestimmtheit kann sich also auf einer tieferen Ebene auflösen, und auf einer
höheren bestehenbleiben. "Auflösen" bedeutet dann ein Verschwinden
der Unbestimmtheit bzw. der Ungewißheit, wo die Ursache der Änderungen bei den
betrachteten Sachen ist.
Abwehr der Unbestimmtheit durch das Subjekt
Ein sprechendes
Subjekt wird je nach Willkür bei Anwesenheit eines grünen Baumes sagen, daß der
Baum grün ist, bzw. sein Empfinden, oder es wird geneigt sein, beides als
einheitlich anzusehen. Dann sagt der Betrachter: Das Subjekt ist in der
Unbestimmtheit befangen. Doch auch der Betrachter der ganzen Situation ist in
derselben Unbestimmtheit befangen, obwohl er es nicht bezüglich der niederen
Situation ist.
Die
Unbestimmtheit bleibt immer irgendwo bestehen, so daß eine reale Welt insgesamt
nicht angenommen werden kann, und der Solipsismus letztlich nicht
auszuschließen ist.
"Reale Welt
insgesamt" steht hier für alle Realismen, vom Universalienrealismus bis
zum Materialismus, und für die aktuelleren Varianten, aber auch für die Formen,
bei denen nicht eine Welt real, eine andere als weniger real angesehen wird,
wie sie etwa in der Satzform, "daß da eine Welt außerhalb und unabhängig
von unserem Erkenntnisorgan sei", zum Ausdruck kommt.
Das Wort "insgesamt"
ist äußerst wichtig. "Reale Welt insgesamt" kann nicht begründet bzw.
bewiesen werden, weil die Erfordernis, alles zu überblicken nicht erfüllt
werden kann: dazu müßte man ja alle Situationen vor Augen haben: A erlebt B, C
erlebt (A und B), D erlebt (C und (A und B)) usw.
Zusätzlich zum
Erleben praktiziert der gesunde Menschenverstand das Betrachten seines Erlebens
von einer höheren Ebene aus. Im Laufe des Lebens erhöht sich die Zahl der
überschauten Situationen ständig. Weil das so oft der Fall ist, entsteht allein
deswegen per Induktion der Glaube daran, daß es hierzu nirgendwo Hindernisse
gibt, und daß es insgesamt eine "reale Welt insgesamt" geben müßte.
Nur das Fassungsvermögen des Betrachters und die Zeit hindern ihn daran, auf
immer höhere Ebenen des Betrachtens zu gelangen. (Es ist so wie bei der Menge
der natürlichen Zahlen, die immer weiter gezählt werden kann und so wie bei der
Menge der zu lebenden Tage, bis zum Ende). Je höher es geht, um so weiter weg wird die
Möglichkeit des Solipsismus verdrängt, und je mehr Situationen überschaut
werden, umso eher wird eine reale Welt angenommen und umso unwahrscheinlicher
erscheint der Solipsismus.
Das Wort
"letztlich" wurde aus demselben Grunde gebraucht wie das Wort
"insgesamt", weil niemand fähig ist, das Geschehen von einer
endgültigen letzten Ebene aus zu betrachten, weil es ja immer weiter gehen
kann. Sobald er stehen bleibt, auf welcher Ebene auch immer, so ist der
Solipsismus dort noch möglich.
Im Systemstreit
hat der Solipsismus das Nachsehen, weil er in immer höhere Bereiche verdrängt
wird, währenddem das System "reale Welt insgesamt" sich auf alle
unteren Ebenen beziehen kann. Das weitere Argument gegen den Solipsismus ist,
daß dieser komplex sein müßte, um viele Ebenen umgreifen zu können, weil er
doch auf alle Ebenen zugreifen müßte. Dieses Argument ist nicht besonders
tauglich, weil Komplexes nicht selten ist, sondern nur unwahrscheinlich.
Die oben
beschriebene Unbestimmtheit der Begegnung besteht jederzeit, wenn eine
Situation nicht überblickt wird. Unabhängig davon, auf welcher Seite im
genannten Systemstreit Stellung bezogen wird.
Naiver Realismus
Dem naiven
Realisten ist es bekanntlich gleichgültig, ob das Grüne am Baum ist, in seinen
Nerven oder in seinem Kopf. Er ist weder Idealist noch Materialist. Jedenfalls
sieht er alles, was einen Bezug zu einem Erlebniszeitpunkt hat, gerne als
einheitlich an. So ist es auch zu verstehen, wenn er ein einziges Wort für
Erlebnisse gebraucht, die völlig verschiedene Sachen betreffen. So findet er
z.B. das Wort Liebe für eine Form der Beziehung, für bestimmte Gefühle und
vieles andere. Die Gleichzeitigkeit des Erlebens von Verschiedenem führt
allgemein zu der Gewißheit, daß dort Einheitliches vorliegt, das anschließend
mit einem Wort gekrönt wird.
Ebenen einer Sache
Die
Unbestimmtheit der Begegnung bezieht sich auch auf die inneren Ebenen der
gesehenen Sachen. So wird das sehende Subjekt zwar sagen können "Dieses
Haus ist rot", ohne angeben zu können, ob das Haus eine rote Fassade hat,
oder ob es durch und durch rot ist, etwa weil die benutzten Steine rot sind.
Ein Teil der
möglichen Irrtümer eines Subjekts wird direkt aus der beschriebenen
Unbestimmtheit heraus verursacht. Obwohl es dem naiven Realisten egal ist, wo
das Erlebte ist, wird er doch aus anderen Gründen oft denken müssen, wo was
ist. Er wird sich zwangsläufig festlegen. So wird er z.B. sagen „Das Grüne ist
am Baum, ich sehe es ja nicht anderswo.“ Oder „Das was ich sehe, ist doch nicht
das Rote!“
Ein Beispiel für
einen alltäglichen Irrtum ist bei Freundschaften und Beziehungen aller Art zu
finden. So denkt der eine, daß der andere sein Anziehungspunkt sei, wobei er
dann nicht weiß, ob er durch den anderen nur aus seinem Alleinsein herausfinden
will. Er weiß nicht, ob er im Dienste eines Ideals der Partnerschaft ist, und
ob die schönen gemeinsamen Erlebnisse dem Zufall oder dem anderen oder seinem
eigenen Überschwang zuzuschreiben sind. Doch hilft hier das Überblicken der
Situation voran? Es ist schwierig, eine vollständige Kriterienliste für eine
wahre Freundschaft anzulegen, um von außen zu testen, was wo ist. Einmal
abgesehen davon, daß die Unbestimmtheit über den Ort der Kriterien völlig
unsicher ist.
Ein weiteres
Beispiel: Nach folgenden Sätzen ist völlig unsicher, wo die Welt überhaupt ist.
Ich mache mir
die Welt so wie sie mir gefällt.
Ich will die
Welt so sehen wie sie ist.
Wie sehr ist die
Welt meine Vorstellung, mein Wille?
usw.
Nicht zuletzt
öffnet die beschriebene Unbestimmtheit Tür und Tor für viele Arten
Betrügereien, Schein- und Seinsdifferenzen usw.
Zur Terminologie
Ich habe das
Wort "Unschärfe" für die Unbestimmtheit nicht gebraucht, weil hier
nichts unscharf ist, und der Ort der Ursache überhaupt nicht angegeben werden
kann. Inwieweit eine Analogie mit der Unschärferelation bzgl. des Ortes der
Elektronen besteht, ist mir jetzt unbekannt. Jedenfalls wird mit der
Unbestimmtheit der Begegnung eine Ort-Unbestimmbarkeit allgemein nicht
behauptet. Außerdem dürfte die hier bedachte Unbestimmtheit jedem verständlich
werden, der schon ein Meßinstrument in der Hand hatte.
29.12.2002
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zum nächsten Text: zusammenstellung.htm mit der Überschrift: "Sache als Zusammenstellung". Dort wird eine
Definitionsart beschrieben, die für einen Teil der Sachen und Sachverhalte
benutzt werden kann. Zusammenstellungen begegnen uns in vielen Bereichen. Wie
ist es mit den Zusammenstellungen, die keine sind? Im Text geht es nicht
allgemein um Definition, Abstraktion oder Subsumption, Hypostasierung,
Neglektion usw. Zusammenstellung kann als Figur angesehen werden, die in
Definitionen benutzt werden kann oder wird. Der Sachverhalt, daß
Zusammenstellungen sehr verbreitet sind deutet darauf hin, wie, in welcher Form
und wie sehr das Erleben des Raumes unser Denken bestimmen muß.
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zur
Übersicht: www.weltordnung.de
©
Joseph Hipp