Drei Systeme
Sich den Problemen stellen oder nicht

System von Sätzen S1

A lebt so, indem er versucht, für jede Sache X eine andere Y zu finden, mit der die Sache X aufgehoben wird, besser wird, gefördert, gelöst wird, denkbar, aushaltbar, gefügig gemacht wird. Und daran gibt es kein Ende, so dass die Haltung entsteht: Für jedes Problem seine Lösung, und allgemein: Für jede Sache X eine andere Sache Y. Das entsprechende System von Sätzen, mit dem dies beschrieben wird, nenne ich hier S1.

System von Sätzen S2

Einige Personen der Geschichte, die nicht nur mit S1 denken, haben zu ihrer Haltung Geschichten ausgedacht, oder eher Gedankenexperimente gemacht. Und diese sollen auch für diejenigen denkbar sein, die nicht so fähig sind, selbst kompliziert zu denken. Und diese Geschichten, obwohl sie einfach sind, werden von der Person A nicht immer verstanden, oder A bleibt an der geschriebenen Geschichte und seiner eigenen hängen, sieht das Gedankenexperiment zwar als solches, denkt aber nicht, dass er in so einer Geschichte lebt. Oder höchstens für einen kleinen Augenblick. Das System von Sätzen, mit dem dieses Gedankenexperiment beschrieben wird, nenne ich hier S2.

Eine einfache Geschichte, bei der versucht wird, diese Sache zu denken, ist die Erzählung „Kannitverstan“. A liest die Erzählung, der Autor tut sogar so, als wäre sie selbstverständlich nicht für A geschrieben, sondern sie wäre nur ein Bericht darüber, was der Wandersbursche lernte: „Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrthum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntniß.“ Der Autor schließt sich dem an. Aber ist es wirklich so? Angenommen, der Leser denkt, dass er das auch so erlebt, dass er viel erlebt, und immer wieder sieht, wo die Gründe des Geschehens sind, und zum Schluss nach Hause geht, und sich sagt, dass er etwas hinzu gelernt hat? Hat er die Geschichte dann richtig verstanden? Gemäß Autor ja. Aber wenn der Autor die Wahrheit nicht so ganz gesagt hat? Dann war das Verstehen der Welt nur von derselben Art wie „Zu jeder Sache X eine andere Sache Y“?

Übrigens war Hebel nicht der erste, der diese Geschichte schrieb. So wie die Gebrüder Grimm und H.C. Andersen fischte Hebel in der Umgebung und in der Vergangenheit, damals ging es noch nicht jede Minute um das Urheberrecht. Hebel hätte auch das Höhlengleichnis des Plato mit dieser kleinen Geschichte wiederholen können, und es gibt viele, die ganze Bücher schrieben, um die Sache auf komplizierte Weise zu kommentieren. Obwohl sie so einfach ist?

Für Epiktet und vielleicht viele von den Stoikern war dieses Gedankenexperiment ständig zu denken. Es sollte gedacht werden, dass jeder nur seine Rolle im Theaterstück spielt und gar soll, aber nicht aus diesem heraus kann. Niemals. Für Epiktet hat auch keinen Zweck, mehr als S2 zu denken, und innerhalb dieses Theaterstücks soll S1 praktiziert werden.

Lange Zeit vorher schrieb Heraklit Sätze, die zu denken geben, dass er das Theaterstück von außen denken konnte. Vielleicht kann die Sache von jedem so gedacht werden, auch mit unterdurchschnittlichen Denkfähigkeite, wenn auch nur manchmal. Es gibt also zwei Extreme, einerseits das Gedankenexperiment ständig mitläufig zu denken, oder aber es nicht zu denken. Kann es sogar sein, einmal S1 zu denken, und dann wieder S2, und sogar abwechselnd, je nachdem, wie es passt? Die Inkompatibilität kann auch gedacht werden. Und es kann Versuche geben, S2 mit S1 zu kombinieren, und mit zusätzlichen Denkexperimenten zu denken. (Ich verwende ab jetzt nicht mehr das Wort Gedankenexperiment, weil ich keinen Sinn darin sehe, zum Wort „denken“ noch ein anderes Wort hinzu zu fügen, das nur Redundanz ergibt und falsch zu denken gibt, dass es zusätzlich zum Denken auch noch Gedanken gibt. Ob Denken mit Gedanken geschieht, ist schließlich fragwürdig.)

Angenommen eine Person liest die Geschichte „Kannitverstan“ noch einmal. Dann kann sie schreiben: Der Wandersbursche lebt nicht nur mit dem System S1, und dem System S2, wegen der Wanderschaft kann er das System S2 denken, und auf sich beziehen. Er sieht das Erlebte ganzheitlich, und daraus schließt er die Erkenntnis, die der Autor einfach so zu denken gibt. Das implizit vom Wandersburschen gedachte System S1 wird gleichzeitig von ihm mit System S2 gedacht. So sagt der Wandersbursche sich: „Es ist dort so, dass es von Geburt über das Leben bis zum Tode geht. Und bei mir ist das auch so.“ Aber wie denkt der Leser? Vielleicht denkt er: „Das ist doch so, als hätte der Wandersbursche ein Theaterstück gesehen, und schließt darauf, dass er auch in so einem Theaterstück lebt.“ Damit ist der Leser jedoch nicht unbedingt zufrieden, denn er will so nicht sein, wie der Wandersbursche. Er denkt sich ein weiteres System:

System von Sätzen S3

Es gibt doch nicht nur Theaterstücke, ich lebe in der Welt, und nicht in einem Theaterstück, und die Welt hat einen Sinn, sie muss einen Sinn haben, sie muss doch mehr sein als die gedachte Welt des Wandersburschen in Amsterdam oder die gedachte Welt des Wanderburschen, wenn er in Tuttlingen lebt. Denn ich lebe in der Realität, und weiß das alles auch. Und in meiner Welt gibt es einen Sinn, zusätzlich.“

Ich nenne dieses System von Sätzen S3. Und mit dem System S3 erkläre ich mir die Realität, mit ihm wird S1 und S2 kompatibel gemacht, mit meinem System S3. Also gehe ich folgendermaßen vor: S2 ist ein A, zu dem es ein B geben muss, dieses B ist mit S3 beschrieben, und so bleibt S1 bestehen. Wie ich dieses B bezeichne, spielt keine Rolle. Dieses B hebt jedenfalls S2 auf, indem es zeigt, oder zeigen wird, dass da mehr ist als ein Theaterstück. Ich nenne dieses B eine Weltanschauung.“

Die Person kann nun ständig mit S1, S2, S3 leben, und kann ständig Sätze sagen, die zu allen drei Satzsystemen passen. Sie kann sagen: Ja, ich suche für jedes Problem eine Lösung, privat, ja, ich lebe in der Welt und nicht über ihr, ja, ich kann den Sinn der Welt auch denken. Alles so wie ich will, ich bin Individualist, und kann trotzdem mehr als nur meine Meinung sagen, ich bin manchmal eben auch Holist.

Zusätzlich kommen mit S3 das Probleme hinzu:

Wenn es einen Sinn gibt, dann brauche ich mich um den Sinn nicht zu kümmern. Oder doch? Wie kann ich mich dann zusätzlich darum kümmern? Was nutzt mir meine Weltanschauung? Andere haben andere Weltanschauungen, und damit entstehen Konflikte, also wäre es nicht besser, wenn ich meine über Bord werfen würde, und die anderen es mir nachmachen würden? Aber auf diese Frage habe ich auch eine Lösung: Das geht gar nicht. Denn jeder hat eine Weltanschauung. Sieh dir doch mal die Pessimisten an. Haben sie nicht auch eine Weltanschauung? Es geht nicht ohne Weltanschauung! Andererseits habe ich schon gedacht, ob es vielleicht keinen Sinn gibt. Dann könnte ich doch beliebig leben wie ein Tier. Ich dürfte alles tun, was ich will. Also das geht nun aber wirklich nicht!“

Die Extrempersonen, die nur ein System hätten:

S1
Ein Macher hätte nur das System S1. Ihm wäre es egal ist, was um ihn herum geschieht, er fragt sich nicht, ob er in einem Theaterstück nur ein Schauspieler ist. Und wenn ein anderer ihm das sagt, spielt er mit, als guter Spieler oder auch als Falschspieler, denn er kümmert sich nicht darum, ob sein Spielen der Rolle ins Theaterstück passt, wenn niemand das merkt. Die Rolle interessiert nur, wenn sie ein Mittel ist, bei dem ein B auf ein A folgen soll. Er würde sagen: Ich stelle das Theaterstück in meinen Dienst. Dass es ein Theaterstück ist, ist mir bewusst, aber es interessiert mich nicht im geringsten. Und dass es noch einen Sinn haben könnte, schon gar nicht.

S2
Ein Stoiker ist sich seiner Rolle voll bewusst, er hält sich an die Regeln des Regisseurs, er gibt sich selbst nur Freiheiten, wenn sie vom Regisseur erlaubt sind. An die Regeln, die vorgegeben sind, kann er sich nur anpassen, es gibt kein Entrinnen aus dem Theaterstück. Wenn die Freiheit gegeben wird, dann darf sie sich in den Dienst des Theaterstücks stellen, wenn sie gemäß S1 sozusagen der allgemeinen Logik entspricht. So ist S1 dann im Dienst von S2.

S3
Ein Weltüberblicker, ein Mönch oder ein Intellektueller
a) würde nicht mit S1 leben wollen, das würde er zu allgemeinlogisch und zu handwerklich oder technisch ansehen. Als Macher tätig zu werden kommt für ihn auf seiner Höhe nicht in Frage,
b) er würde im Theaterstück nicht mitmachen, also nicht mit S2 und in der Folge auch nicht mit S1 (als Macher),
c) er würde immer mit den Sätzen des Systems S3 leben, so ähnlich wie ein Fernsehzuschauer, der sich seine Meinung längst gebildet hat, und diese wird nur noch vom Geschehen angestoßen, und seine Äußerungen sind entsprechend. Aber er kann auch neue Erkenntnisse gewinnen. So wie der Wandersbursche.

Der moderne Mensch

Der moderne Mensch denkt alle drei, manchmal eher das eine, manchmal eher das andere, das Denken von S3 ermöglicht ihm die Beliebigkeit, es gibt keine Rangordnung.

Hierzu kann ein Dialog geschrieben werden.

Beispiele

Theaterstücke: Teilnehmer: lebende Personen: Lola Astanova, Reiche, Politiker, Bill Gates: bei allen ist das zu denken zu geben, was sie erreicht haben: Auch ein Überwiegend-S1-Denker kann viel erreichen, und einige von ihnen tun so als könnten sie problemlos Sätze aus in S3-Systemen sprechen. Sie ignorieren, dass es viele S3-Systeme gibt, sie sind auf eins von ihnen festgelegt.

Hier könnte ein Bill Gates erscheinen, und sagen, dass er S3 gut denken kann, wobei er nun das Machen den Machern überläßt, nachdem er zuerst Macher war, dann im Theaterstück spielte, nach Afrika fuhr, die Armut sah, so wie der Wandersbursche in Amsterdam er eine Erkenntnis hatte, und zum Wohltäter wurde. Zudem läßt er sich ein schönes Theaterstück von den Machern herstellen, in dem er dann lebt, und nur noch mit S3 zu leben braucht.

Einerseits wird zu bemerken sein, dass die Armen eher nur Macher sein können, auch sie streben danach, im Theaterstück eine bessere Rolle spielen zu können, das ist ihr zweites Ideal. Diejenigen, welche das System S3 denken können, haben die Möglichkeit, es in S2 einzubringen. Es bedürfte noch des Systems S4, mit dem die Erklärung für das Denken des Systems S3 gefunden werden könnte, und/oder wo zumindest gefunden wird, ob das System S2 genügt, und S3 nicht erforderlich ist. Die Existenz eines Systems S4 ist nicht unmöglich.

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Zusatz:

Obiges Denken geht ohne Denken des Funktionierens
(eine weitere Dimension des Denkens)

Das Abstrahieren des Funktionierens kann bei dem Denken unbewusst ablaufen. Es ist so wie beim Sehen eines Films, beim Lesen eines Buches, beim Sehen des Fliegens eines Flugzeugs, dort wird dabei abgesehen, wie das Ganze funktioniert. Oder aber es kann gesagt werden. Um das Ganze zu denken, bedarf es nicht des Denkens der Funktionsweise. Ob sogar bei diesem Denken von der Zeit abgesehen wird, bzw. von der Zeit abgesehen werden muss, ist eine weitere Frage.

Den Eigenbezug zu denken ist nicht erforderlich
(eine weitere Dimension des Denkens)

Das Beziehen auf sich selbst ist wiederum eine zweite Sache, die gedacht werden kann. Geht obige Beschreibung ohne Selbstbezug? Wahrscheinlich. Denn der Wandersbursche bezieht das Leben in Amsterdam auf das Leben in Tuttlingen, mehr nicht. Im Anschluss kann er jedoch den Selbstbezug herstellen, draufsetzen. Im Film Metropolis können die Arbeiter ihre Welt so denken und beschreiben wie sie als Ganzes abläuft. Und der Sohn des Oberen kann die Welt, in die er hineinwächst, auch als Ganzes sehen. Beide, der einzelne Arbeiter sowie der Sohn können in der Folge erst die jeweils andere Welt denken, weil sie sie sehen, nachdem sie sich ihnen zeigt. Erst dann kann der Bezug gedacht werden. Hier kann sowohl an Siddharta Gautama (Buddha) gedacht werden, wie auch an den Seiltänzer in Zarathustra, dem sich seine Welt reichlich spät zeigte, und dann erst einen vergleichenden Satz sagen konnte. Das Denken des eigenen Lebens in einer Uexküll-Welt bedarf nicht des Eigenbezugs. Es besteht dort nur die Umwelt, als Ganzes und dort sind die Teile, die mit ihren Interaktionen gesehen werden.

Was zuerst gedacht werden kann, der Bezug, das Sehen des jeweils Ganzen, oder das Funktionieren, das ist eine weitere Frage.

Ob das Denken des Funktionierens nur ein zusammengesetztes Denken von vielen „wenn x, dann y“ ist, ist eine weitere Frage. Wenn nun dieses zusammengesetzte Denken selbst ein „Von X zu Y ist“, kann die Frage entstehen, dass das „von X zu Y“ mit dem Sehen des Ganzen gleichzeitig gedacht werden kann, obwohl das eine Denken mit dem anderen nichts zu tun hat. Beispiel: Das Fliegen des Flugzeugs als ein neues Denken im Vergleich zum Denken des Gehens bzw. das Denken der Funktionsweise des Fliegens, und dann das Denken der Funktionsweise.

Weiter stellt sich die Frage, ob beim Denken des Höhlengleichnisses und dem Denken des Kannitverstan nun doch dessen Funktionsweise von außen gesehen gedacht wird, und nicht nur die Sache als Ganzes. Ganz einfach weil schließlich das Denken des Wandersburschen seine Funktionsweise gleichzeitig zum Denken des Ganzen zu denken gibt.

Kann weiter gesagt werden, ob das Denken der zwei Dimensionen dazu führt, dass der Betrachter den Sinn in Frage stellen kann? Denke an den Seiltänzer. Und die Frage sich dann stellt, ob die Sache der einen Sache sinnvoller ist als die der anderen (Mensch vs. Tier). Und in der Folge ein Zarathustra antwortet, nur etwa mit den Worten „Mach dir keine Sorgen“. Was offen läßt, ob es mehr gibt, ob es eine Antwort auf die Frage gibt. Hätte Zarathustra besser antworten können, indem er gesagt hätte, dass da noch was kommt? Vielleicht hatte Zarathustra ja noch etwas, das er so schnell nicht sagen konnte? Denn „Mach dir keine Sorgen“ schließt nicht aus: „Deine Hoffnung, das war schon was, die genügte.“ Dies sagte oder dachte er schließlich auch.

Zu bedenken ist auch die übliche Theaterspielerei zwischen Personen, als Partner, Kind, Elter, zwischen Obrigkeiten und Gruppen, zwischen Personen und nur gedachten Obrigkeiten usw.

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Obiges wurde nur geschrieben in Bezug auf die Geschichte von 1811. Es besteht eine Menge Literatur zur Erzählung Kannitverstan, die für Obiges nicht gelesen wurde. Sollte das Obige eine Wahrheit hergeben, so wäre es eine „durch den Irrthum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntniß“ hergestellte.

Besser gesagt: Es ist ein Schrieb, der aus dem Dunkelheit kommt, es ist kein Wissen durch Fortsetzung am alten Wissensbau. Zudem werden Bezüge zwischen den einzelnen Geschichten und den drei Systemen hergestellt. Sowohl das funktionale wie das ganzheitliche Denken dürfte dort erkennbar sein.

Hier sind zwei Links zu Kannitverstan:

https://de.wikisource.org/wiki/Kannitverstan
Text von 1811, Johann Peter Hebel

https://epub.uni-regensburg.de/25677/1/ubr12863_ocr.pdf
Kurt Franz 1985, 186 Seiten
Johann Peter Hebel
Kannitverstan
Ein Mißverständnis und seine Folgen
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